Wie crossmediales Storytelling funktioniert, demonstriert die Fernsehserie Lost. Sie zeigt, wie sich Zuschauer durch das Nutzen von Synergien verschiedener Medien-Kanäle, vom passiven lean-back TV-Konsumenten zum aktiven lean-forward Nutzer wandeln. Was Praktiker über Kampagnen oder Geschichten bei Stakeholdern oft erreichen wollen, demonstriert die Serie Lost: Sie baut eine Community um eine Geschichte. Im Beitrag Storytelling in Lost I: Von einer TV-Serie lernen wurde der richtige Kanal für Geschichten gesucht. Aber wie etabliert man auf einer kommunikativen Einbahnstraße einen Rückkanal? Lost findet eine Antwort.
Menschen erzählen Geschichten, Geschichten erzählen von Menschen
Damit sich Menschen involvieren, sollten sie sich mit der Geschichte identifizieren. Den Zugang schaffen Charaktere. Die Grundlage einer fesselnden Geschichte sind die Menschen. Die Zuschauer entwickeln eine Beziehung zu einem Charakter, fühlen mit ihm und öffnen sich einem Thema.
Charaktere schaffen Identifikation und Wiedererkennungswert, sie erreichen das Publikum auf einer emotionalen Ebene. Geschichten leben von ihren Charakteren. Menschen verwandeln langweilige, abstrakte, technische Themen in fesselnde Geschichten. Damon Lindelof, Miterfinder und Autor von Lost, findet einen Vergleich und sagt auf einem Time Talks LIVE Panel:
The fact of the matter is, the Garden of Eden is only an interesting place once man is there, to completely screw things up.
Zwar spricht Lindelof von fiktiven Geschichten, seine Aussage gilt auch beim nicht-fiktionalen Storytelling. Denn Unternehmen, Organisationen oder Agenturen zielen auf dasselbe ab: Sie möchten Menschen fesseln.
Lost zeichnet sich dadurch aus, dass die Serie jeden Nebenschauplatz und Ortswechsel in der Handlung mit starken Charakteren verbindet. Darüber gewinnen die Orte Relevanz und Zuschauer sind gegenüber Neuem aufgeschlossener, weil hinter einem Menschen eine Geschichte steht. Die Strategie der Charakter-Prägung von Inhalten gilt umso mehr, je komplexer die Geschichte ist. Zuschauer verlangen komplexe Inhalte. Carlton Cuse, Produzent und Autor von Lost, sagt:
We felt that videogames were one model that showed that if audiences geht invested, they love complexity. In fact, the more complexity the better, and the challenge oft that complexity was an asset as opposed to a liability.
In jeder Episode von Lost steht ein Charakter im Mittelpunkt, der die komplexe Geschichte verständlich macht. Da sich die Zuschauer auf einen Charakter einlassen, kann die Geschichte, die darüber erzählt wird, umso komplexer sein. Auf dem Fundament einer Charakter-Zentrierung baut Lost komplexe Geschichten mit abstrakten Themen, wie Religion gegen Wissenschaft, Schicksal gegen Selbstbestimmung, Leben gegen Tod. Erst die Charaktere, dann die Szene.
Die Community: Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum
Wie kaum eine andere Serie lebt Lost von der Verbindung zwischen Autoren und Zuschauern. Zuschauer erhalten über den Lost-Podcast ihre offizielle Bühne. Sie stellen fragen an die Macher Damon Lindelof und Carlton Cuse. Der Podcast lebt von Interaktivität mit den Hörern. Interessierte erfahren Hintergründe zur Produktion oder Erklärungen zu Storyentwicklungen. Wer den Podcast nicht hört, verpasst nichts aus der Hauptgeschichte. Wer ihn hört, dem erschließen sich die Hintergründe zur Geschichte noch intensiver.
Podcasts sind heute häufig Radiosendungen im Internet. Eine klassische One-way-Kommunikation nach dem Sender-Empfänger-Prinzip. Der Erfolg des Lost-Podcasts gründet sich darauf, dass die Macher den Podcast als Podcast interpretieren und Zuhörer einbeziehen. Darüber erhält er seine inhaltliche Abgrenzung von anderen Kanälen. Der Podcast ist eine Art Kommunikations-Enabler für Plattformen. Über Aussagen binden die Macher die Community, lenken gezielt Diskussionen, steuern die Aufmerksamkeit in eine Richtung.
In diese Richtungen schauen die Zuschauer noch aufmerksamer: Im Podcast erwähnten Lindelof und Cuse, dass sich Zuschauer die Werbung im TV am 3. Mai 2006 genauer anschauen sollten. Der Werbespot ist der erste Hinweis zur Lost Experience, eines der erfolgreichsten Alternate Reality Games (ARG) im Internet. Eine wissenschaftliche Analyse der Lost Experience (sehr lesenswert) durch die MIT Comparative Media Studies schließt mit dem Fazit:
As consumers grow more accustomed to transmedia exploration and polish their skills in new media literacy, transmedia storytelling is poised to build its own unique set of aesthetics and develop its own version of narrative special effects.
Erst entsteht die Idee für eine Geschichte, danach wird der Kanal gesucht, der die Geschiche am besten erzählt. Gegenüber der New York Times sagt Produzent Carlton Cuse:
We wanted to tell stories in a nontraditional way, and there were certain stories that Damon and I were interested in telling that don’t exactly fit into the television show.
Über die Lost Experience fanden die Autoren eine Möglichkeit, den Zuschauern zusätzliche Informationen anzubieten ohne damit die Hauptbühne, die Fernsehserie, mit Inhalten zu überladen.
Die Art und Weise, wie die Lost Experience startete, zeigt wie strategisch die Contentplatzierung ist. Der Start war ein Podcast-Verweis auf die Werbung im TV. Fernsehzuschauer verpassen die Werbung, Podcasthörer – und damit überdurchschnittlich interessierte Zuschauer der Serie – erhalten eine zusätzliche Information aus dem Podcast, die sie verwerten. Sie schauen die Werbung und sehen den ersten Hinweis zum ARG. Das ARG bindet Zuschauer und bietet einen Mehrwert. Lost gelingt es mit crossmedialen Inhalten die Fans zu erreichen, für die Inhalte tatsächlich relevant sind. Als Resultat entstehen auch Wissenslücken zwischen jenen, die über Informationen verfügen und jenen ohne Informationen. Communities überbrücken die Wissenskluft. Nutzer teilen Inhalte und analysieren sie gemeinsam.
Das Bild vom passiven lean-back Konsumenten veraltet. Zuschauer lassen sich nicht berieseln sondern handeln aktiv. Das digitale Zeitalter verändert das Mediennutzungsverhalten. Gute Geschichten fesseln Zuschauer, egal wie komplex sie sind. Wissenskluften überbrücken die Zuschauer gemeinsam.
Zwangsläufig müssen sich Zuschauer in Foren und Wikis organisieren, um Informationen der Kanäle zu bündeln. Die Communities sind gleichzeitig ein Rückkanal für die Autoren. Darüber findet symmetrische Kommunikation statt, fast ein Dialog. Ein Modell, das besonders im Bereich des Storytellings interessant scheint. Autoren lesen die Diskussionen der Community und integrieren sie in das Storytelling. Ein Ansatz, den man mit dem Begriff grassroots Storytelling beschreiben könnte. Die Grundidee der vierten Staffel von Lost gaben die Zuschauer. Zwar behalten die Autoren ihren roten Faden der Geschichte, setzen aber vereinzelte Schwerpunkte, die die Community diskutiert. Spätestens hier setzt das Public Engagement ein, als Ergebnis einer Wissenskluft eines heterogenen Publikums. Damit erreicht die Serie, was ein TV-Sender von ihr verlangt, sie bindet und gewinnt neues Publikum. Michael Benson, Vize-Präsident Marketing ABC, sagt:
This is a very nontraditional marketing venture for us… We’re not trying to sell the show. What we’re trying to do is find new ways to get people either more engaged or newly engaged in the program.
Den Überblick auf der Bühne behalten
Egal ob Informationen oder Geschichten: crossmediale Kanäle funktionieren nicht, wenn das Gesamtprodukt nicht funktioniert. Der Erfolg von Lost darf nicht auf die crossmediale Vernetzung reduziert werden. Die Autoren schreiben Lost mit dramaturgischer Präzision. Spannungsbögen ziehen sich über eine Episode, über jeden Akt, über jede Szene und über jeden Dialog innerhalb einer Episode. Die Qualität zieht sich durch alle Ebenen der Produktion: Schauspieler, Außendrehs und Technik. Als ABC die Pilotfolge von Lost im Jahr 2006 ausstrahlte, lief das Konzept gegensätzlich zur Entwicklung im US-Fernsehen, wo low-budget Reality-Produktionen das Serienprogramm bestimmten.
Crossmediale Kanäle erhöhen die Reichweite von Geschichten. Public Engagement ist kein Zufall, sondern eine Strategie, die durch crossmediale Distribution angestrebt wird.
Lost funktioniert als Gesamtwerk. Adäquat kann auch ein Unternehmen nur als Gesamtwerk funktionieren, wenn eine Unternehmenskultur den Content bietet, eine crossmediale Strategie zu verfolgen. Wenn etwas existiert, worüber man erzählen kann und darf. Die Kommunikation kann nicht alles leisten. Aber sie kann sich der Herausforderungen annehmen, alle Kanäle mit Qualität zu füllen und den Überblick auf allen Plattformen zu behalten.
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