Für hitzige Diskussionen sorgte letzte Woche ein Artikel des FAZ-Redakteurs Mathias Müller von Blumencron. Der Chefredakteur für digitale Produkte bezeichnete dort das Internet als „gewaltige Empörungsmaschine“, als „Gerüchteschleuder“ und als „Propagandavehikel für jede noch so obskure Idee“. Gleichzeitig ruft er zum Schutz der Freiheit und der Wahrheit im Netz auf – zwei Werte, die eigentlich grundverschieden sind.
„Die eingebildete Wahrheit verdrängt die Fakten, eine scheinbare Welt die Realität.“
Blumencron vergleicht das Internet mit einer Matrix, die als Scheinwelt die Wahrheit gekonnt vor uns versteckt hält. So viele Menschen wie nie zuvor seien verunsichert, wo es zur Wahrheit geht. Damit widerspricht sich der Autor jedoch mit seiner Behauptung, Facebooknutzer würden blind den Posts von Freunden vertrauen. Schuld ist demnach laut Blumencron Facebook, „das Betriebssystem des Internets“.
Facebook als Betriebssystem des Internets? Das klingt doch arg einseitig. Und selbst wenn Social Media als (passive) Hauptquelle für viele Menschen dient, so ist ein Teilen von Inhalten nicht gleichzusetzen mit einer unreflektierten Zustimmung. Vielmehr ist es ein Anstoß von Kommunikation, ein Seht her, was sagt ihr denn dazu?
Blumencron schließt mit folgender These:
„Das Internet schützt nicht Freiheit, gebiert nicht Wahrheit.“
– Natürlich gebiert das Internet keine Wahrheit. Wie Gunnar Sohn in The European als Antwort auf den FAZ-ler schreibt: „welche Wahrheit ist nicht konstruierte Realität – egal, ob sie von Profijournalisten, Experten oder Laien kommuniziert wird?“Auch die „reale“ Welt kann diesem hohen und philosophischen Anspruch nicht gerecht werden. PR-Praktikern wird ja häufig vorgeworfen, es mit der Wahrheit nicht so ernst zu nehmen. Doch solange nicht bewusst Falschmeldungen produziert werden, lässt sich über die Definition dieses philosophischen Begriffs streiten.
Die Suche nach Wahrheit ist kein Problem des Mediums. Und ein Schutz von Freiheit eine ganz andere Debatte, die erst einmal nicht im Konflikt mit einer digitalen Informationsflut steht. Das Problem liegt vielmehr in unseren mangelnden Sprachkenntnissen, wie Blumencron selbst in der Mitte seines Artikels anmerkt. Nicht die Informationsflut – die natürlicherweise auch falsche Inhalte vermittelt – sondern unsere mangelnde Fähigkeit, diese sinnvoll aufzunehmen und zu verarbeiten.
Auch in der jüngsten Version des Cluetrain-Manifests von Doc Searls und David Weinberger wird die Problematik der Informationsverarbeitung zum großen Thema. Ein Artikel auf heise fasst deren Aussage folgendermaßen zusammen:
„Die Märkte sind voll von Trollen, Idioten und Schatzräubern, doch der größte Hammel sind wir alle als tumbe Horde, die es sich gefallen lässt, dass Trolle, Idioten und Schatzräuber trollen, beleidigen und räubern können. Wo ist unser Stolz auf dieses wunderbare Netz geblieben?“
Ja, wo ist unser Stolz geblieben? Die Freiheit im Netz ist groß, erst durch sie gibt es „Trolle, Idioten und Schatzräuber“, die die restlichen Nutzer an der Wahrheitsfindung hindern. Aber eine Einschränkung der Freiheit kann keine dauerhafte Lösung sein, auch wenn immer mehr Onlineportale ihre Kommentarfunktion abschalten müssen. Wir müssen lernen, uns im Netz der unendlichen Möglichkeiten zurecht zu finden und „Propagandaschleuder“ von gut recherchierten Informationen zu unterscheiden. Ein genereller Anspruch auf Wahrheit ist mit der Freiheit nicht vereinbar.