Joseph Weizenbaum bezeichnete das Internet als Müllhaufen, da es zur totalen Desinformation führen könne. Andere Internetvordenker sehen das Internet als den Beginn einer neuen Epoche der Aufklärung. Die Vertreter beider Richtungen sind kaum an einen Tisch zu bringen.
Der Begriff „Citizen Reporter“ wurde durch die U-Bahn-Anschläge in London im letzten Jahr zum Modewort. Pendler verschickten damals per Handy Fotos der zerstörten U-Bahn. Nachdem das Mobilnetz durch die Massen an MMS zusammenbrach, überbrückten die „Citizen Reporter“ den Ausfall durch Blogeinträge im World Wide Web.
Neben den zahllosen Webblogs, hat ein weiteres demokratisches Tool das Licht der Webwelt erblickt – die Wikis. Wikipedia ist einer der größten Wikis und ermöglicht es jedem Laien Artikel zu bestimmten Themen einzubringen und bestehende Artikel zu verändern. In den letzten Jahren ist so ein riesiges Nachschlagewerk aus Laienhand entstanden. Der amerikanische Internetvordenker Tim O´Reilly sieht Wikipedia schon als den Nachfolger der Encyclopedia Britannica.
Ein kanadischer Soldat namens Anderson berichtete 2005 live und ungekürzt aus Afghanistan und dies mit Hilfe eines Weblogs. Ursprünglich sah Capitan Martin Anderson dieses Blog nur als Mittel, um mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben – der kanadischen „National Post“ war dieses Blog aber im Herbst 2005 eine Titelgeschichte wert. Nachdem der Artikel erschienen war, stiegen die Zugriffszahlen des Blogs und das Blog wurde zu einem Medium, welches in Kanada erheblich zum Agenda Setting beitrug.
Metrofahrer als Livereporter, bloggende Frontkämpfer, das Laienlexikon: Sie sollen Vorboten einer omnipotenten Revolution der Mediengeschichte sein. Gelebte Informationsgesellschaft, meinen die Internetoptimisten um Tim O´Reilly. Diese Umwälzung sei mächtiger als Erfindung des Buchdrucks und die Entstehung der Gutenberg-Galaxis im 15. Jahrhundert. Die orale Gesellschaft wurde damals von der Schrift abgelöst – heute befinden wir uns im Übergang zu Medien, die nicht nur Wirklichkeit vermitteln, sondern auch Wirklichkeit produzieren können.
Weizenbaum ironisiert dagegen diese Strömungen in seinem gerader erschienen Buch „Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom?“ mit dem Flaschenpostgleichnis – Wer Informationen ins Netz stelle, handle nicht anders als jemand, der eine Flaschenpost in Meer werfe – auch die sei ein „demokratisches Medium“.
Schaffen „Citizen Reporter“ nun das Medienkythera oder nur Informationsverlust – durch Fehlinformationen?
Die Blogs, die Wikis habe alle eine gemeinsame Basis: Sie gehen von basisdemokratischen Prämissen aus, arbeiten von unten nach oben – wir kennen diese Bewegung auch unter dem Schlagwort „Grassroot Movement“. Die Eintrittsbarriere ist nicht hoch – jeder der einen Internetzugang und einen Computer hat, kann mitmachen. Man wird als Bloger wird zu seinem Verlag, zu seinem eigenen Verleger. Man spricht in diesem Zusammenhang vom Web 2.0 – dem Web der Zivilreporter, der Laien und Amateure.
Vom reaktiven zum aktiven Netz
Das Web 2.0 ist das Netz des privaten Impressions-Managements, das Netz der Blogs und Wikis und das Netz der „privaten intimen PR“. Die erste Auflage des WWW (Web 1.0) ging nach dieser Vorstellung im Herbst 2001 mit den Dot-Com-Pleiten unter und gebar das Web 2.0 – das aktive Netz der „risikokaptialfreien“ Privatschreiberlinge. Das Web 1.0 war damals wenig interaktiv, der „Homo Internauticus“ war zum Konsumieren verurteilt. Eine aktive Teilnahme blieb im größtenteils verwehrt.
Das Magazin Wired – als „Jugend“ der Internetreformbewegung
Anfang des 20. Jahrhunderts propagierte das Magazin Jugend in München eine neue Zeit – eine Zeit der Reformbewegungen. Das Magazin Wired von Kevin Kelly tut dies heute im 21. Jahrnundert ebenso. Kelly lässt sich in diesem Magazin über (s)eine neue Webwelt mit euphorischer Entzückung aus: „Wenn in 3000 Jahren kluge Köpfe unsere Epoche studieren, (…) werden sie unsere Zeit als für die Menschen wegweisend beurteilen. Denn dies ist die Zeit, in der die Menschen begannen, (…) ihre Hirne mit einer weltumspannenden Einheit – er nennt diese Einheit – „a single thing“ – zu verlinken. Unsere Rasse vernetzte alle Regionen, Abläufe, Zahlen und Gedanken in ein großes Netzwerk. Mit diesem zu Beginn kleinen unsichtbaren Netz entstand (…) eine fühlende, denkende Einheit (Device), die jede bisherige Erfindung in den Schatten stellte. Dieses eine Ding „single thing“ ermöglichte uns eine neue Dimension des Denkens und führte zu einem geistigen Neuanfang der Menschheit. Es wurde Licht.“
Diese Worte erinnern stark an die Erzählung „Zeitscanner“ von Gaarder – aber in dieser Erzählung wurden die Menschen inaktive Couch-Potatos, die nur noch im Scanner von daheim aus durch die Zeit und das Wissen der Menscheit reisten – Weizenbaum sieht, wie Gaarder, eine große Gefahr in dieser kaum noch interpersonalen Interaktionsweise: Fremde Menschen lernten sich via E-Mail nicht wirklich kennen, eine menschliche Begegnung finde nicht statt – der Mensch würde vereinzeln, einsam werden und im letzten Schluss keine Informationen mehr aufnehmen können.
Weizenbaum versucht mit seinem aktuellen Buch diese neue Weltreligion zu entmystifizieren. Er stellt an Stelle dieses – fast schon onthologischen – „einen Dings“ die Vernunft des Einzelnen. Weizenbaum sieht aber auch, dass die „Auswege aus der programmierten Gesellschaft“ jeder selbst finden muss. Wir sind also gefordert nicht im Flow des Web 2.0 zu verschwinden. An die Stelle eines neuen Bewusstseins stellt Weizenbaum den Verstand und die Vernunft des Einzelnen.
Web 2.0-Kommunikation als Chance die Online-PR
oder Klasse statt Masse(nmedien)?
Tim O´Reilly ist im Gegensatz zu Kelly hier wohl klarer – aber auch Reilly sieht im neuen Netz etwas ganz Neues. Reilly hofft im Entstehen des Web 2.0 auf neue Geschäftsmodelle. Diese Modelle sollen aber auch „bottom up“ sein. Nach Reilly können Kommunikationsfirmen bzw. Firmen, die kommunizieren, nur mit dem Modell des Web 2.0 erfolgreich seien.
Und die Scientific Community gibt Reilly Recht – und nicht nur diese – auch die Realität scheint O´Reilly zu bestätigen. Grassroot-Firmen sind „in“: Flickr, SXC – solche Firmen boomen und werden von den Großen der Branche geschluckt – z.B. von Yahoo (im Fall von Flickr). Auch Flickr wird basisdemokratisch verwaltet und macht so dem User zum Produzer. Weblogs-Betreiber wurden und werden z.B. von AOL aufgekauft und Unternehmen machen sich Blogs zur Kundenkommunikation zurnutze. Es scheint wirklich ein neues Zeitalter der wahren Interaktion und demokratischen Netzverwaltung angebrochen.
Die Stars des Web 2.0 sind unbestritten die Blogs. Leute die sich vor HTML scheuten und kaum Netzinhalte online stellen konnten, sind nun mit einfachen Softwarelösungen in der Lage binnen Minuten eine eigene Publikation ins Netz zu stellen. Technorati (ein Blog-Provider) listete im Jahr 2005 allein 30 Millionen Blogs auf. Blogs werden immer mehr zum Journalismus von Bürger für Bürger und somit zu einer Alternative zu den Massenmedien, behauptet O´Reilly. Große PR- und Kommunikations-Provider sehen Ihre Felle davonschwimmen und handeln: Das Time-Magazine stellt dem Fremdblog „Daily-Dish“ einen eigenen Internetauftritt zur Verfügung. Zeitungen wie „20 Minuten“ nehmen per MMS Photos ihrer Leserschaft in ihr Blatt auf. MSNBC bringt sogar eine eigene Rubrik nur für den „Citizen Reporter“.
Kevin Kelly und O´Reilly können noch so viel schwärmen – Der Amerikaner Nicholas Carr sieht diesen Boom etwas anders. Carr schrieb zwar auch für „Wired“ und streitet das Web 2.0 nicht ab – doch zieht er andere Synthesen aus der Dialektik von Gesellschaftsentwicklung und dem Web 2.0. Carr will das Internet nicht als Göttersatz betrachten – vielmehr fordert er die objektive Analyse des Netzes. Er möchte die kritische Auseinandersetzung mit den virtuellen Gemeinschaften, dem Amateurismus und dem digitalen Kollektivismus. Sicherlich – so Carr – sind solche Entwicklungen zu begrüßen – aber sind sie auch wirklich gut?
Carr sieht ebenso wie Weizenbaum das Internet bedroht durch dubiose Fakten und durch inhaltlichen Müll. Carr möchte vermeiden, dass die Wikis als goldene Kälber verehrt werden und nimmt sich hierzu die Gottheit „Wikipedia“ vor.
Carr sieht Wikipedia nicht als kollektiv erstellen Wissensspeicher oder als Ausdruck des „single thing“, sondern als Äußerung mancher Unzulänglichkeit: Flasche Informationen, unverständliche Erklärungen, kaum Quellenangaben, stellenweise – einfach nur Müll. Carr beurteilt Weblogs aus meist oberflächlich und beobachtete, dass Meinungen im machen Blogs vor Fakten kommen. Nicht nur Carr sieht die Blogs als das „New-Age“ des Internet – als Esoterik der Neuen Medien. Ähnlich nähert sich der Publizist John C. Dvorak diesem Thema: „Einige sehen die Möglichkeiten von Web 2.0 in utopischen Dimensionen, sie sehen eine schöne neue Internetwelt – alles ist so cool.“ In seinem Artikel „Der Web 2.0 Quatsch“ analysiert er: „Das Modewort Web 2.0 steht schlicht für eine Idee, die es seit Jahrzehnten gibt: Do it yourself.“
Aber man sollte nicht so vernichtend in seiner Kritik sein, wie Carr oder Dvorak. Sicherlich bietet das Web 2.0 ganz neue Möglichkeiten für die Online-PR und den Online-Journalismus. Wer wirklich gut schreibt und objektiv bleibt, wird auch seine Leser finden und Vertrauen aufbauen können und Interaktivität hat noch keinem Internetauftritt geschadet.
Aber in der Zeit des Dot-Com-Booms sah man auch das Ende der „alten Wirtschaft“ und feierte die New-Economy. Im Jahr 2001 endete dies mit dem Niedergang der Träume. Das Web 2.0 wird daher sicherlich nicht im Aufbau einer universalen Bewußtseinsformation außerhalb und unabhängig der realen Gegebenheiten führen – aber wer weiß, evtl. ist ein Schritt zu einer neuen Art der Online-PR und zu einer neuen Do-It-Yourself-Bewegung.
Einige Links zur Diskussion:
• Kevin Kelly, «We Are the Web», www.wired.com/wired/archive/13.08/tech_pr.html
• Tim O’Reilly, «What Is Web 2.0», www.oreillynet.com/lpt/a/6228
• Dan Gillmor, «We the Media», www.oreilly.com/catalog/wemedia/book/index.csp
• Nicholas G. Carr, «The Amorality of Web 2.0», www.roughtype.com/archives/2005/10/the_amorality_o.php
• John C. Dvorak, «Web 2.0 Baloney», go.pcmag.com/dvorak
Buchempfehlung:
• Joseph Weizenbaum (mit Gunna Wendt) – “Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom?“ – Herder Verlag – 19,90 € – ISBN: 3-451-28864-8