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Deutschlands erster Professor für Web Literacies: “Ich lerne mindestens genauso viel, wie die Studierenden.”

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Dr.-Ing. Martin Wessner ist seit dem 1. September als Deutschlands erster Professor für Web Literacies tätig. Am Mediencampus in Dieburg unterrichtet er im neuen Bachelor Studiengang Onlinekommunikation. Im Interview berichtet er von seinen ersten Erfahrungen, den besonderen Herausforderungen und neuen Lehrformen.

Dr.-Ing. Martin Wessner
Dr.-Ing. Martin Wessner

Herr Wessner, Sie lehren seit knapp vier Monaten als Deutschlands erster Professor für Web Literacies. Was bedeutet Web Literacies eigentlich?
Martin Wessner: Das hat mich auch der Präsident der Hochschule bei der Berufung befragt: „Für was soll ich Sie denn da eigentlich berufen?“. Der Begriff Web Literacies ist in Deutschland, außer in einer kleinen Fachöffentlichkeit, quasi unbekannt. Er leitet sich ab von dem Begriff Literacy, was für die Fähigkeit mit Texten zu arbeiten steht. Also zu lesen, zu schreiben und Texte zu verstehen. Web Literacies bedeutet also im Internet Informationen zu finden, im Internet Informationen zu veröffentlichen und mit dem Internet zu arbeiten, zum Beispiel gemeinsam an Projekten zu arbeiten, sich auszutauschen oder sich zu vernetzen. Ich nenne es eigentlich immer Medienkompetenz fürs Internet statt Web Literacies, damit es verständlicher ist. Diese Literacy ist nichts Statisches, sondern sehr dynamisch. Das was die Studierenden heute hier lernen, ist in vier Jahren, wenn sie ihr Studium abgeschlossen haben, zum Teil schon wieder veraltet.

Mit welchen Methoden unterrichten Sie Web Literacies – gerade um zu verhindern, dass das Wissen bald wieder veraltet ist?
Um zu einem bestimmten Zeitpunkt zu entscheiden was zu Web Literacies gehört, gibt es Methoden aus der Pädagogik, mit denen ich ableiten kann, welche Kompetenzen für einen bestimmten Kontext benötigt werden. Aber auf Grund dieser Veränderungen muss ich im Wesentlichen darauf abzielen, dass die Studierenden in der Lage sind, ihre Kompetenzen selbst zu erweitern. Ganz klar im Mittelpunkt muss die Fähigkeit stehen lebenslang zu lernen, um sich selbst neue Kompetenzen anzueignen – alleine oder auch in der Zusammenarbeit mit anderen. Und die Methoden, wie man das macht, aber auch die nötige Einstellung, die Offenheit für zukünftige Entwicklungen – dass sind Ziele, auf die wir hier an der Hochschule hinarbeiten.

Wie sieht das dann ganz konkret aus?
Wir haben beispielsweise jetzt im ersten Semester des Studiengangs Onlinekommunikation das Web Literacy Lab, bei der wir als Lehrform unter anderem Barcamps einsetzen. Wir betreuen die Studierenden dabei im Team: Sabine Hueber, die im Fachbereich Media als didaktische Mitarbeitern tätig ist, und auch der Lehrbeauftragte Fritz Ehlers bringen umfangreiche Barcamp-Erfahrung mit, ich bringe meine informatische und pädagogische Kompetenz ein. In diesen Barcamps stellen die Studierenden selbstgewählte Themen vor und geben ihre Kompetenz an andere weiter. So lernen sie schon sehr früh im Studium eigene Kompetenzen zu identifizieren, geeignet aufzubereiten und weiter zu geben.  Ziel der Veranstaltung ist nicht, jeden einzelnen Aspekt der Web Literacy zu 100 Prozent abzudecken, sondern wir wollen die Studierenden exemplarisch in die Lage versetzen sich selbst Wissen zu erarbeiten. Und dazu gehört auch, dass sie nach persönlichen Präferenzen entscheiden können, in welche thematische Session sie innerhalb eines Barcamps gehen. Es gibt in der Regel drei parallele Sessions.

Konnten sich die Studierenden zu Beginn etwas unter Barcamp vorstellen?
Nein, vor mir sah ich viele Fragezeichen in den Gesichtern. Der Begriff Barcamp als eine Art „Unkonferenz“ ist bisher nicht weit verbreitet in Deutschland. Mit einer Bar hat es nichts zu tun, es gibt auch nichts zu Trinken. Es war zuerst viel Unsicherheit da. Die Studierenden, meist frisch von der Schule, waren diese Freiheit nicht gewohnt. Dort gab es einen festdefinierten Lehrplan und einen Katalog von Lernzielen, die erreicht werden sollen. Unsere Ziele liegen auch auf einer Meta-Ebene. Es geht nicht nur um konkrete Inhalte, sondern um die Fähigkeit Wissen weiter zu geben, Wissen aufzubereiten, zu strukturieren und sich selbst neue Kompetenzen zu erarbeiten.

Wird diese Art des Lernens von den Studierenden angenommen?
Eindeutig ja. Aber ich möchte erst mal vorweg schicken, dass dies nicht die einzige Lehrform ist, die wir praktizieren. Ich unterrichte beispielweise Multimedia-Technologie als klassische Vorlesung. Damit legen wir grundlegende Strukturen. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um später neues Wissen an vorhandene Strukturen anzulagern. Die Mischung macht’s.
Im Laufe des Semesters haben sich die Studierenden dann immer weiter gesteigert und einen richtigen Ehrgeiz entwickelt ihre Session gut zu bewerben, um möglichst viele Kommilitoninnen und Kommilitonen für ihre Session zu begeistern. Da war dann unheimlich viel Kreativität zu sehen.

Was bedeutet es für Sie, die erste Professur in diesem Feld zu haben? Hat man dann auch besondere Freiheiten oder spüren Sie großen Druck?
Beides. Es ist eine unheimlich große Freiheit zu gestalten. Ich überlege mir, welche Kompetenzen sind jetzt konkret wichtig oder werden in gut drei Jahren, wenn die Studierenden hier abschließen, wichtig sein. Zum anderen ist diese Gestaltungsfreiheit immer mit einer großen Verantwortung verbunden. Alle Lehrenden, die das Modulhandbuch mit Leben füllen, tragen eine Mitverantwortung dafür, dass die Studierenden mit den gelernten Inhalten später ihr täglich‘ Brot verdienen können. Und das in einem stark dynamischen Feld, wo wir, logischerweise, heute nicht wissen, welche konkreten beruflichen Tätigkeiten unsere Absolventen dann ausüben werden.

Wie waren für Sie die ersten Wochen am Mediencampus?
Ich bin nicht ganz neu hier, ich hatte drei Jahre lang einen Lehrauftrag an der Hochschule Darmstadt im Studiengang Interactive Media Design. Natürlich ist es etwas anderes Lehrbeauftragter zu sein und die Studierenden ein Semester lang zu sehen als jetzt langfristige Verantwortung zu übernehmen. Insgesamt bin ich – und das war für mich auch einer der Gründe hierher zu kommen – begeistert von dem hier versammelten großen kreativen Potential bei den Studierenden und den Lehrenden. Ich bin fasziniert von der tollen Ausstattung. Und was mich wirklich freut ist die Interdisziplinarität, die hier am Mediencampus gelebt wird. Ich bin ja von Hause aus weder PR- noch Marketing-Mensch, sondern Informatiker und Pädagoge und arbeite hier eng mit Kollegen aus Journalismus, Marketing oder PR zusammen. Kurz: Ich lerne mindestens genauso viel, wie die Studierenden und das ist natürlich eine tolle Sache.

Auf der Seite des Mediencampus Dieburg finden Sie eine Kurzbiographie von Dr.-Ing. Martin Wessner inklusive Forschungsinteressen.

Barcamp: Ein Barcamp ist eine offene Tagung mit offenen Workshops, so genannten Sessions, deren Inhalte von den Teilnehmern zu Beginn der Tagung selbst entwickelt und im weiteren Verlauf gestaltet werden. Barcamps dienen dem inhaltlichen Austausch und der Diskussion, können teilweise aber auch bereits am Ende der Veranstaltung konkrete Ergebnisse vorweisen. (Quelle: Wikipedia)