In einem dichtgedrängten Raum sitzen teure und billige Sims um Tische herum, johlen augelassen zur Bühne hin, bis ihre virtuellen Gläser herunterfallen und auf dem Boden klirrend zerschellen. On Stage eine Frau, die einen erotischen Striptease hinlegt. Alltag in dem bekannten Club „Mister J’s“, der für jede Vorlieben das Passende bietet.
Das könnte eine Szene aus der virtuellen Welt Second Life sein, über die mittlerweile fast täglich berichtet wird. Ist es aber nicht! Vielmehr ist es eine Zukunftsversion aus dem Buch Otherland von Tad Williams, bereits 1996 geschrieben, die langsam zur Realität werden scheint.
Dieses Buch kann ich nur wirklich jedem ans Herz legen, der sich für die Entwicklung von Web 3.0 & Co. interessiert. Im Buch: Eine virtuelle Netzwelt, die jeder gegen Bares betreten kann. In Erscheinung treten Bürger, also echte Menschen aus dem Reallife, in Form von Sims bzw. Avataren. Und jenachdem, wieviel Kohle einem zur Verfügung stehen, ist dieser besonders realistsich, exclusiv und individuell ausgestattet. Datenmengen und kleine Programme treten in Form von Replikanten auf, sind aber rein äußerlich nicht von einem billigen Sim zu unterscheiden. Die Netzwelt ist voll von Konzernen, die sich dort in Form von Gebäuden, Shops und Vergnügungsparks präsentieren. Second Life lässt grüßen. Denn Vision und Realität scheinen sich allmählich anzugleichen.
Dann gibt es noch Netfeeds – elektronische Nachrichten, die sich während dem Besuch in der virtuellen Welt per Audio einspeisen. So weiß man als User, was im Reallife los ist. Aha – so könnten sich also RSS-Feeds weiterentwickeln.
Betreten kann man die finktionale Netzwelt aus Otherland über verschiedenste technische Geräte zum Beispiel über V-Tanks. Sehen und Hören sind Schnee von gestern: Je nachdem wieviel man für seinen Zugang ausgibt, werden alle Sinne voll ausgeschöpft. Das Höchste: ein direkter Zugang per Einstöpselung über die Nervenbahnen, sogenannte Neurokanülen. Kann auch das bald Wirklichkeit werden? Werden wir selbst bald nur noch virtuell einkaufen gehen oder Geschäftspartner treffen? Und dabei nicht nur sehen und hören, sondern auch Berührungen fühlen oder riechen?
Doch es geht noch weiter: In Otherland wird bereits das semantische Web – auch Web 3.0 genannt – beschrieben. Hier bekommen Agenten Aufträge und recherchieren demnach das komplette Web, um dem Auftraggeber Informationen zu liefern. Romanheld Orlando hat sogar eine persönliche Bindung zu seinem Daten-Agenten „Beezle“ und ihn visuell als Comicfigur gestaltet. Auch das bald Realität?
Wir abonnieren RSS-Feeds, telefonieren über Skype oder verabreden uns zum Meeting in Second Life. Wir spielen Online-Spiele wie WOW oder zocken per bewegungsgesteuerter Konsole. Könnten sich Erfindungen wie Nintendo Wii, Second Life und Web 3.0 bald zu einem realen Otherland entwickeln?
Doch im Buch gibt es neben der bekannten virtuellen Welt eine weitere. Eine von hochbetuchten Geschäftsleuten verbesserte Netzwelt – noch realistischer als je zuvor, in der man sogar als Kopie ewig leben kann. Oder stirbt….
Wen es interessiert – Buch kaufen. Und wer keine Lust hat, sich durch vier dicke Schmöker durchzulesen, der kann das Werk von Tad Williams auch als Hörbuch – vom HR aufgenommen – genießen. Übrigens das aufwendigst vertonte Hörbuch aller Zeiten. Etwas gewöhnungsbedürftig für meinen Geschmack, da es sehr anstrengend ist, den vielen Charakteren zu Folgen. Und bin ich mir sicher, das sich tomorrow-Podcaster Thorsten Wehner dort einige Sounds abgeschaut hat.
Pressestimme zu Tad Williams: Internet-Freaks werden ihn, nachdem sie seine Schreckensszenarien von Real- und Cyberspacewelt verdaut haben, tatsächlich als Tolkien des 21. Jahrhunderts feiern.“
(Die Zeit, Siggi Seuss, 16. 12. 1998)
[…] Wieder mal “Second Life” Robert Basic hat bei Markus Breuer eine Serie über das Online-Spiel gefunden und alle bisherigen Artikel verlinkt. Auf zu basicthinking.de >> Georg Pagenstedt hat ein Werbevideo für das vom Axel Springer Verlag produzierte Online-Blatt “The Avastar” entdeckt. Schauen bei blogrolle.net >> Marsha Haus schreibt über die Bücher “Otherland” von Tad Williams. Sie sieht Paralellen zwischen seinen Cyberspace-Visionen von 1996 mit dem heutigen “Second Life”. Weiter bei pr-fundsachen.de >> […]
Ja, Otherland ist so ziemlich Richtung, in die das geht. Ich warne aber vor der Formulierung „Web 3.0“. Denn ich denke, dafür ist die Community zu kreativ. Sagen wir doch, und bei SL passt das doch wunderbar: Web 3D.
😉
Unter http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,350123,00.html findet man ein Interview mit Tad Williams aus dem Jahr 2005, in dem er sich nicht nur positiv über die Entwicklung des Internets äußert.